Michael Lobisch-Delija

Auschwitz


Schädelstätte

Schienenstränge aus endlosen Weiten
Spuren der Zeit am Leib der Erde
und im Gedächtnis der Welt

Gerichtet auf das eine, das erdschwere Ziel
jene Endlösung, immer noch weit entfernt
damals im Land unter dem Haken--

kein Kreuz an den Schneisen kein Stern
wo man Sterbende aus den Waggons kippt
wie anderen namenlosen Ballast

Für das letzte Lager nur halbwegs Lebendige
noch gehfähig für die Triage zwischen den Rampen
doch verdammt sie alle, sofort oder später

Namen zu Nummern und Rauch
über der Schädelstätte
wo Überlebende
für immer gezeichnet werden

 

Klage und Hoffnung

Nie mehr schlafen
keine Stunde, keinen Zyklus
und keinen Tag

vergasen
verbrennen
verscharren

Die dunkle Eisenschrift
zerfetzt den Himmel:
Arbeit macht frei !

Kann es noch Lachen geben
diesseits der Öfen
die weiter brennen in uns ?

Warten auf jene
die alles heilt:
Zeit unserer Kinder
jene die auf Dauer alles erlässt
ausser Verantwortung:

Kein Sand im Getriebe der Zeit -
Asche

vergast
verbrannt
verscharrt

Pflicht bleibt uns
Vergangenheit
ohne Vergessen

(Dieser 2. Gedichttext wurde von dem albanischen Dichter Pal Sokoli in die albanische Sprache übersetzt. Dokument hier öffnen)

 

 

27. Januar:
Yom Ha Shoah
 

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Michael Lobisch-Delija

Neujahr

Auf der Tanzfläche
an der Bar
im Getriebe der Ausgelassenen
und irgendwann das zwanghafte Verlangen
den juckenden Skalp abzustreifen

Wir tanzen, bis der Boden unter unseren Füssen wankt
so fühlen wir
der Himmel ist oben
entgegengesetzt
unserer schwankenden Kraft der Schwere

Später, früh am Morgen
löschen sie die Lichter
nur weil draußen ein Tag vorhanden ist

Noch sind wir gestrandet
an der Bar
bei den anderen Flaschen
die stündlich ersetzt werden
und wo das Schulterklopfen der Helden
nicht mehr gezählt wird

Dort hängt dein rotes Lächeln im Spiegel
wie eine welke Girlande
und der Hohläugige an deiner Seite
sieht aus wie mein Bruder
nur reichlich älter

Am besten überlassen wir denen den Vortritt
bei den guten Vorsätzen
die jetzt wieder fällig werden

 

 

 

 

 

 

Michael Lobisch-Delija

Event Horizon

Die Welt ist eine Scheibe geworden
über einem riesigen schwarzen Loch
in dem alle Greueltaten verschwinden

Von der Sonne aus
wirkt sie jetzt flach wie ein Schatten
in dem die Zeit stehen blieb

während sie doch auf der Erde dahinrast
so dass niemand genug davon findet
um irgend etwas zu verändern

So bleibt alles in der Schwebe
im Sog hinter dem Ereignishorizont
wo sich nichts mehr ereignet

wo die Taten rotten neben den Untaten
die Schreie neben dem Schweigen
und neben dem vielen
was noch getan und unterlassen werden könnte

Doch nichts deutet darauf hin
dass dieses Loch
jemals die Erde verschlingt

 

 

 

Auszug aus Gedichtband
NACHTWENDE